Sterben und Tod: Im Zuge veränderter Mediennutzung wandeln sich auch Formen des Trauerns. Prof. Dr. Reto Eugster im Gespräch mit Claudia Deuber über die Medialisierung des Trauerns. (Foto: Reto Eugster, fotografiert von Bodo Rüedi, Foto FHS St.Gallen)
Was ist typisch für die Art, wie heute mit Sterben und Tod umgegangen wird?
Der Umgang mit Sterben und Tod unterliegt dem gesellschaftlichen Wandel. Während die Vorstellungen von Sterben und Tod vom frühen Mittelalter bis hinein ins 18. Jahrhundert weitgehend religiös „gezähmt“ waren, erleben wir heute ihre Psychisierung und Ästhetisierung. Der Tod ist nichts mehr, was uns „schicksalhaft“ ereilt, dem wir uns ergeben, sondern ist eine Zumutung, die der medialen Skandalisierung bedarf.
Was ist mit Psychisierung und Ästhetisierung gemeint?
In einer stark individualisierten Gesellschaft sind Sterben und Tod Angelegenheiten des Einzelnen. Nun droht der Umgang mit der Angst vor dem Tod zum psychischen Problem zu werden, das im Zweifel psychopharmakologisch behandelt wird. Anderseits ist der Tod in seinen medialen Inszenierungen allgegenwärtig. Ob im TV-Krimi, in der Tagesschau, bei stark frequentierten YouTube-Sequenzen oder in historischen Dokumentationen usw.: Es um die Klischierung und Mythisierung von Sterben und Tod. Wir sprechen von der Ästhetisierung des Todes.
Wie wirkt sich diese Medialisierung des Todes aus?
Medial inszeniert, erreicht uns der Tod nicht als Betroffene, sondern als Zuschauer. Wir können uns den Tod auf Distanz halten. Im Zweifelsfall hilft die TV-Fernbedienung, um uns den Zumutungen der Thematik zu entziehen.
Trauer scheint auch ein Social-Media-Thema geworden zu sein?
Das ist richtig. Virtuelle Friedhöfe waren noch vor zehn Jahren Nischen im Internet. Heute unterhalten die renommierten Zeitungen virtuelle Gedenkstätten. Diese weden stark frequentiert.
Tote hinterlassen Spuren im Internet
Knapp 400.000 Facebook-Konten hinterlassen verstobene User in Deutschland jährlich, in der Schweiz dürften es etwa 40.000 sein. Dabei ist Facebook nur ein Anbieter nebst vielen anderen. Cloud-Firmen, zum Beispiel der Schweizer Anbieter SecureSafe, bieten die Möglichkeit der Datenvererbung. Meine Daten sind verschlüsselt. Doch ich kann definieren, wer nach meinem Tod Zugang zu welchen Dateien erhalten soll. SecureSafe-Services sind verbreitet, sie werden von verschiedenen Kantonalbanken angeboten.
Ist es legitim, im Internet quasi öffentlich zu trauern?
Für Generationen ist das Internet zum Betriebssystem des Alltags geworden. Hier werden Schulaufgaben gelöst, Partnerschaften und Arbeitsstellen vermittelt, Fotos geteilt, Steuern berechnet, hier wird eingekauft, medizinisch beraten, hier ärgern sich Leute übereinander und hier verlieben sie sich ineinander. Weshalb sollte hier nicht auch getrauert werden? Ich halte diese Entwicklung für folgerichtig und solche Trauerformen für legitim.
Trifft das auf alle Generationen und sozialen Milieus zu?
Das ist eines der Probleme. Nach wie vor gibt es einen deutlichen generationalen Graben bei der Internetnutzung. Der Zugang zum Netz wird mehr und mehr Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Wie oft hören wir in Geschäften, Details und Rabatte seien im Internet zu finden. SBB-Sparbillette: Dazu braucht es einen Netzzugang. Doch beispielsweise ältere Frauen sind im Netz stark untervertreten.
Verändert sich durch diese Virtualisierung die Trauerkultur unserer Gesellschaft?
Unsere Trauerkultur ist vielfältig geworden. Schwarze Kleider zu tragen, Totengebete zu zelebrieren, biblische Grabsteininschriften zu gestalten: Das sind nach wie vor wichtige Formen des Umgangs mit Tod und Trauer. Doch der irdische Platz, den wir beanspruchen, wird tendenziell kleiner. Urnen- und nicht Erdbestattung, Gemeinschafts- und nicht Einzelgräber sind im Trend. Zugespitzt: Wir beanspruchten im Tod weniger „irdischen Raum“, dafür mehr virtuellen.
Findet dieser Wandel der Trauerkultur genügend Akzeptanz?
Vermutlich ist es besser, von Trauerkulturen, also im Plural, zu sprechen. Der Umgang mit Tod und Trauer hat sich in der nach-konfessionellen Zeit ausdifferenziert. Nebst den Priestern gibt es unterschiedliche Arten von Ritualmeistern und -meisterinnen, die sich als Trauerbewältigungsassistenz anbieten. Noch in den 80er Jahren war umstritten, ob Kinderspielzeuge als Trauersymbole auf Gräbern verboten werden sollen. Eine Zeitlang gehörten Berufsbezeichnungen zu den tolerierten Grabinschriften. Heute zieren bereits Web-Adressen Grabsteine. Kurzum: Formen des Trauerns ändern sich ständig, wenn die Bedeutung des Religiösen, mindestens unter einer erweiterten begrifflichen Perspektive, auch bleibt.
Wie erleben sie in ihrem Umfeld diese Entwicklung?
Ein Fachkollege verstirbt unerwartet. Eine gemeinsame Bekannte will mir dies mitteilen. Als sie anruft, bin ich bereits informiert. Zwei Tage zuvor sass ich im Zug zwischen Zürich und St. Gallen schockiert vor meinem Smartphone, als ich von seinem Tod via Facebook erfuhr. Letzte Fotos von ihm waren noch zugänglich. Ein Link führte mich zu einem Trauerportal. Hier sah ich, dass Kolleginnen und Kollegen ihr Beileid bereits ausgedrückt hatten, und zwar auf empathisch-individuelle Art.
Was geschieht bei solchen Trauerportalen?
Es bilden sich Trauer-Communities. Dabei sind drei Aspekte wichtig: a) Die Trauer wird „vergemeinschaftet“. b) Ich begegne einem medial inszenierten Tod, in einer Zuschauerrolle, die Distanz schafft. c) In meiner Trauer kann ich aktiv werden, in dem ich Kommentare, Fotos usw. einbringe.
Diese Trauerportale schaffen Öffentlichkeit für etwas sehr Privates.
Bei vielen Portalen ist es möglich, den Zugang auf einen Freundeskreis hin einzuschränken. Auch Facebook oder ähnliche Anwendungen richten sich an „Freundeskreise“. Doch die Vorstellungen, was privat und was öffentlich sei, verändern sich stark. Dies hat auch Auswirkungen auf den Umgang mit der Trauer. Im Zuge von Social Media geht es nicht mehr nur um privat vs. öffentlich. Vielmehr werden im Sinne des Soziologen Jan Schmidt „persönliche Öffentlichkeiten“ geschaffen, ungezählte Nischenöffentlichkeiten.
Zu Lebzeiten sollte man sich um Erbschaftsfragen kümmern. Sollte man sich auch für seine digitale Hinterlassenschaft interessieren?
Die Trauerportale sind Konstruktionen von Hinterlassenschaft. Ich erlebte, dass eine Facebook-Freundin von mir starb und ihr Facebook-Profil über ihren Tod hinaus aktiviert blieb. Irgend etwas hinderte mich daran, diesen Facebook-Kontakt zu löschen. So blieb ich mit einer Toten „verbunden“. Als eines Tages über diesen Account wieder gepostet wurde, wirkte dies wie ein metaphyisches Ereignis auf mich. Zwischen dem Irdischen und dem Himmlischen scheint sich ein dritter Horizont zu öffen. Der Spielraum des Virtuellen.
Reto Eugster, Prof. Dr., ist Leiter des Weiterbildungszentrums der FHS St. Gallen und in der Hochschullehre tätig. Er ist Mitbegründer des Masterprogramms Social Informatics.